Ein erster Blick auf den See vom Kreuzberg kommend enttäuscht immer. Viel zu schnell verstellt die Bäckerei , die Post, die Volksschule, das Hotel zur Forelle die Möglichkeit wieder einmal ganz von Neuem einen Kontakt mit diesem weichen, sanften, zugegeben in dieser Jahreszeit durch eine feste Haut geschützten Körper aufzunehmen. So belang- und harmlos kommt die anfangs Februar meist schon verschneite Eisfläche diesseits der Brücke, von den Hiesigen stolz "kleines Meer" genannt, daher. Von der Straße in Oberdorf aus erscheinen die präparierten Bahnen für die Eisläufer wie das Werk eines gestressten Managers, der in seinem kleinen Zengarten viel zu viele Kringel in den Sand gezogen hat. Da bleibt kein Platz mehr für das Dazwischen, alles wurde genützt, verplant. 200 km Marathon werden gefahren, das braucht Platz.
Ein zweiter, näherer Blick wird möglich. In Techendorf über die Brücke, prüfend, wie das Eis dieses Jahr aussieht. Wird es fein sein zum Gleiten? Auch ein Blick hinüber auf das "große Meer", und wie jedes Jahr ein kurzer Gedanke an den großen Riesen. Als er kam, um die runden Zentralalpen und die schroffen Südalpen aufzutürmen, da hat sich hier ein kleiner nutzloser, von wenig imposanten Bergrücken begrenzter Spalt aufgetan. Damit er sich nicht immer wieder dafür schämen oder sich darüber ärgern musste, machte er den Blick frei auf die Dolomiten westwärts. Im Osten wars wurscht, da war nichts mehr zu retten, ein jämmerlicher schmaler Graben, an der Schattseite im Winter vom Sonnenlicht unversorgt. Was ist es dann, was uns fasziniert, anzieht immer wieder zurückzukehren, zu sehen, ob "es" immer noch da ist, dieses Gefühl von Eingetaucht und Getragen sein.
An die 3500 Holländer fahren hier seit Jahren Ende Januar ihre Alternative 11 Städte Tour, ein Rennen der Superlative. Vom Morgengrauen bis zur Dämmerung sausen bunte Trikots mit Füßen und Köpfen in einer Haltung ähnlich den Radrennfahrern, im rechten Winkel vornübergebeugt, den Kopf im Nacken, der Blick zugleich nach vorne und hinunter. Im Eis ist auf die Dehnungsrisse zu achten. Wenn man jetzt Einzelkämpfer vor dem geistigen Auge hat, so ist das nicht ganz richtig. Hier fahren Gruppen von Menschen, Teams im dichten Pulk miteinander, wie ein Organismus, ähnlich Fischschwärmen, die Körper dicht an dicht im hohen Tempo hochkonzentriert ihre Runden. Des Abends wird dann in großen Zelten am Eis fröhlich und ausdauernd gefeiert. Nach diesem in Europa einzigartigem Ereignis kehrt wieder gelassene Ruhe ein, manche kleinen Gruppen ziehen weiter ihre Kreise, daneben Schulgruppen mit Eishocheyschlägern, Familien mit Kinderwägen und Rodeln, Spaziergänger.
Die Energie vom Kreisen liegt noch in der Luft, man begibt sich an einer beliebigen Stelle auf die Bahn, und beginnt sich langsam auf einen Rhyhtmus einzustellen, die Sprünge im Eis im genügend spitzen Winkel anzufahren, um nicht hängenzubleiben. Nach Osten gleitend, die Brücke mit der Betriebsamkeit des Hauptortes hinter sich lassend umfängt einem bald die Weite der Fläche, Richtung Paterzipf und Neusach dehnt sie sich genüsslich aus und verbreitet eine stille Heiterkeit. Hier kommen noch alle vorbei, auch diejenigen mit wenig Kondition kommen über die Runden. Der großen Wiese am Paterzipf gegenüber leuchten die Wedel des Schilfgrases, in der früh vom aufsteigenden Nebel mit Raureif zusätzlich befiedert, zwischen den Stegen und kleinen Bootshäusern. Ein monochromes Bild aus allen Abstufungen von weiß bis braun, die dunklen Holztöne der Balkone der Häuser im Hintergrund bilden einen Rahmen, der in wiederkehrenden Mustern dem Auge im Weiterwandern ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Man muss sich schon ganz gezielt das eine oder andere Detail einprägen, um wieder an den Ausganspunkt zurück zu finden.
Doch soweit sind wir noch lange nicht. Das Geheimnisvolle wartet. Der Blick sucht Richtung Osten einen hervorspringenden Punkt. Das letzte Haus am Nordufer. Dahinter führt nur mehr ein schmaler Wanderweg zwischen den bis zur Wasserfläche herab wachsenden Nadelbäumen. Der Ronacherfels zieht uns an und hier beginnt nun der Teil des Sees, der sich im Näherkommen langsam und Teil für Teil dem Auge erschließt. Spätestens hier nun hat man seinen Rhythmus gefunden und hier hört man auch plötzlich das Kratzen der eigenen Kufen auf dem Eis. Es wird ruhig, nur mehr wenige schlittschuhwandern bis hierher mit dem Ziel die ganze Runde bis zum Dolomitenblick am Ostende des Weissensees auszufahren. Runde 18 km sind es von der Brücke bis hierher und wieder zurück. Zwischendurch könnte vage Langeweile aufkommen, keine Ablenkungen für den Blick nach vorne, der Wald reicht rundum herunter bis ans Eis, entlang klei
ner Ausbuchtungen am Ufer erschließt sich immer wieder ein weiterer Blick dem Ende entgegen. Und plötzlich stellt sich eine Ruhe im Inneren ein, während die Beine von selbst wissen, was sie tun, entstehen im Geist zuerst in großen, dann immer kleiner werdenden konzentrischen Kreisen Bilder zu Themen in der eigenen Biografie. Von Jahr zu Jahr rätsele ich vorher, was wohl diesmal auftauchen könnte. Welcher Aspekt meiner Arbeit oder Beziehungen könnte hier eine Wandlung erfahren. Es lässt sich nicht vorhersehen, das ist aber gar nicht nötig. Plötzlich ist es nämlich da, ganz dick und intensiv, so wie die Rennläufer die Tage vorher mit all ihrer Energie, ihrem Einsatz und ihrer Lebensfreude an ihrem Projekt arbeiten. Der große Geist des Weissensees mit seinem Stützpunkt am Ronacherfels, wenn man auf der Seeveranda ganz hinten Platz nimmt, kann man besonders gut im Abendlicht sein Profil im Fels erkennen, hat seinen Einfluss geltend gemacht.
Seine Energie stellt große konzentrische Kreise zur Verfügung, die im
mer kleiner werden, etwa der umgekehrte Vorgang, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Die Eisläufer nehmen diesen Vorgang auf und verstärken ihn durch ihre Bewegung jeden Tag aufs Neue. Durch das entspannte und absichtslose Gleiten kommt es zu einer Verbindung mit dieser Qualität des Ortes.
Manchmal schon am ersten, oft an den weiteren Tagen meines Hierseins bekomme ich eine
neue Perspektive zu dem einen oder anderen Aspekt in meinem Leben, manchmal wird es ganz dicht und klar, wie wenn man durch ein zuerst schlecht eingestelltes Fernrohr blickte und es dann scharfstellte.
So werden die Besuche zu diesem krafvollen und wunderschönen Ort zu einer Reise zu einem neuen und noch verborgenen Teil meiner Selbst.
Der Geist des Weissensees hat mich noch nie enttäuscht.
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