Mittwoch, 10. Februar 2010

Die Nixe vom Weissensee

Der Tiefgrabner war schon länger dort. Er saß auf der Bank und massierte sich das rechte Knie als ich dazukam. Er schaute kurz auf, erkannte und begrüßte mich, wandte sein Gesicht aber gleich wieder seinem Bein zu. Ich dachte erst, er hätte sich verletzt und setzte mich zu ihm, um Hilfe anzubieten. Er blickte vor sich hin, hinunter zum See, der steil bergab direkt unter uns lag. Man hatte die Bank an die wohl schönste Stelle zwischen dem Ronacherfels und dem Campingplatz an einen kleinen Felsvorsprung platziert. Zwischen den Fichten schien das milchig türkisblaue Wasser leicht erreichbar zu sein, aber die starke Neigung ließ es nicht ratsam erscheinen die kurze Distanz zu überwinden.







 

 





Ich war wohl einige Minuten mit der Idee beschäftigt gewesen, wie es wäre hierher zu schwimmen, da sprach er mich an, zuerst begriff ich gar nicht, was er gemeint haben könnte, bis mir klar wurde, er hatte gar nicht bewusst registriert , dass jemand neben ihm saß und mich damit etwas verwirrt, hatte er mich doch davor begrüßt. Er entschuldigte sich kurz für seine Unhöflichkeit, tauchte aber gleich wieder in seine Gedanken ab, was ich daran erkannte, dass er wieder begann in einem ganz eigenen Rhythmus sein rechtes Knie zu massieren. Zwischendurch nickte er auch mal mit dem Kopf, als würde er einem unsichtbaren Gegenüber zustimmen. Es schien mir, als würde ich ihn mit einem Smalltalk stören und so blieb ich einfach sitzen und genoss die Aussicht. Irgendwie schien es mir wichtig, noch zu bleiben. Nach einigen Minuten einer dichten, milchigen Stille begann er zu reden: Über die Entscheidung, die er zwanzig Jahre zuvor getroffen hatte.  















Sie, seine Frau Inge kam damals oft mit ihrer älteren Schwester Rosi, die einen Sinn für dramatische Auftritte hatte, immer am Laufenden war, was in der Clique wer zu wem gesagt oder wer wem etwas angetan hatte. Ihre Treffen kamen ihm aus späterer Sicht kurzweilig vor, man wusste im Vorhinein nie, wie sich die Gespräche und Neckereien entwickeln würden. Rosi hatte die Gabe, aus langweiligen Sommernachmittagen ereignisreiche Filmszenen zu machen. Erst Jahre später wurde ihm klar, dass Inge sich neben ihrer exaltierten Schwester in die Nische einer Zuschauerin zurückgezogen hatte. Sie hatte keine Vorstellung davon, dass irgendein Junge sich für sie interessieren konnte. Er brachte einige Beispiele vor, immer, wie hypnotisiert auf das Wasser unter uns blickend, als spräche er zu sich selbst. 

Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte ich ihn, ob dies alles denn heute noch wichtig wäre und auch ich beobachtete das im Sonnenlicht schimmernde Türkis zu unseren Füßen und es schien mir, als würden goldene Reflexe knapp unterhalb der Wasseroberfläche in Spiralbewegungen aufwärts wandern. Es vergingen mehrere Minuten im Schweigen, er saß regungslos da, ich war irgendwie blockiert, wusste nicht, ob ich aufstehen und gehen oder doch noch etwas sagen sollte, höflichkeitshalber, bevor ich gehen würde. Doch er begann wieder zu sprechen, zuerst ganz langsam und stockend, dann immer schneller werdend, ähnlich einer Dampflok, die langsam erst richtig Fahrt aufzunimmt. Inge, sagte er, muß wohl die vielen Jahre ihrer Ehe lang immer gedacht haben, dass sie nur die zweite Wahl für ihn gewesen war, er sie nur genommen hatte, weil er Rosi nicht haben konnte.  













Er sprang auf, machte wild kreisende Bewegungen mit seiner Hand vor dem Kopf, während er sich selbst erklärte, was nun zu tun war und mit einem Mal saß ich alleine da, wie aus einem Traum erwacht. Ich blickte zwischen den Baumstämmen hinunter ins Wasser und vernahm ein Summen und leises Plätschern, ganz sanft, ganz heiter und entspannt. Ich muß wohl noch ziemlich lange da gesessen haben, es gab keine Zeit, nur Frieden und ein sattes Gefühl tief drin.  


Zurück am Ronacherfels, saßen schon alle Pensionsgäste beim Abendessen. Bevor ich mich setzte, konnte ich noch einen Blick vom Tiefgrabner und seiner Inge am hintersten Tisch direkt vor dem Fels erhaschen. Sie hatte ganz rote, aufgeregte Wangen und strahlte über ihr ganzes Gesicht.  
Die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages legten sich auf meine Haut, als ich wenig später am Bootssteg saß, um zu ergründen, wo die psychologisch so gut bewanderte Nixe wohl Ihren Abend verbrachte und wie sie es geschafft hatte, mich als ihr Sprachrohr einzuspannen.